Im Zweifel für die Industrie? Studie zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft
Keine Institution der Europäischen Union (EU) arbeitet so intransparent wie der Rat, das Gremium der Mitgliedstaaten. Das dient Lobbyisten mit vielen Ressourcen – sie können im Verborgenen ihre Interessen bei den nationalen Regierungen durchsetzen. EU-Vorlagen im Sinne des Gemeinwohls werden so häufig blockiert oder verwässert. Noch massiver wird dieses Machtungleichgewicht zugunsten von Konzernen, wenn Staaten vorübergehend den Vorsitz im Rat haben. Eine neue Studie von LobbyControl gemeinsam mit der Brüsseler NGO Corporate Europe Observatory (CEO) zeigt das Problem am Beispiel Deutschland.
Seit Jahren wollen EU-Kommission und -Parlament der Steuervermeidung durch Großunternehmen in der EU einen Riegel vorschieben. Durch Steuervermeidung und -optimierung entgehen den EU-Mitgliedsländern jedes Jahr 50 bis 70 Milliarden Euro an Steuereinnahmen. Endlich gäbe es auch im EU-Ministerrat eine Mehrheit für die so genannte „öffentliche länderbezogene Steuerberichterstattung“ für Unternehmen mit einem Umsatz ab 750 Millionen Euro. Diese könnte helfen, wenigstens einen Teil der Steuertricks offenzulegen. Jetzt müsste das Thema nur noch auf die Tagesordnung des kommenden Rats für Wettbewerbsfähigkeit Ende September. Doch die Bundesregierung, die derzeit die Tagesordnungen für den Ministerrat erstellt, setzt es nicht rauf. Sie missbraucht damit ihre aktuelle Machtposition im Rat der EU und stellt die Interessen deutscher Konzerne über das Gemeinwohl. Das ist ein Skandal. Steuervermeidung geht uns alle an.
Aber beginnen wir einmal von vorn: Welche Machtposition eigentlich? Am 1. Juli hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Einmal alle 14 Jahre erhält jeder EU-Mitgliedstaat diese besondere Rolle im EU-Institutionengefüge. Sie gibt ihm die Möglichkeit, der EU-Politik für ein halbes Jahr seinen besonderen Stempel aufzudrücken. Denn in dieser Zeit hat das jeweilige Mitgliedsland den Vorsitz im Rat der EU, dem Gremium, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten EU-Gesetze beschließen, inne. Das bedeutet, VertreterInnen dieses Landes moderieren die Verhandlungen des EU-Ministerrats, stellen Tagesordnungen auf, führen Einigungen herbei und können so Prioritäten setzen.
Mitgliedstaaten dealen heimische Interessen im Ministerrat aus
Dass Deutschland seine besondere Rolle im Rat zugunsten seiner Unternehmen ausnutzen könnte, haben viele Organisationen befürchtet. Kurz vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft hat LobbyControl gemeinsamen mit vielen anderen NGOs eine Studie herausgebracht, mit der wir zeigen: Immer wieder nutzen die Regierungen der Mitgliedstaaten den Rat, um hier die Interessen ihrer heimischen Industrien durchzudrücken. Denn wenn häufig die Rede von der Intransparenz der EU-Institutionen die Rede ist, trifft dies mit Abstand am meisten auf den Rat der EU zu. Dieser ist das Gremium, in dem die Mitgliedstaaten in verschiedenen Zusammensetzungen – je nach Thema – gemeinsam mit Kommission und Parlament EU-Gesetze beschließen. Diese Intransparenz ist von den Mitgliedstaaten gewollt – die Regierungen sehen es als ihr Recht an, EU-Vorlagen miteinander ohne das Licht der Öffentlichkeit auszuhandeln. Wir kennen nicht einmal die Positionen, die unsere nationalen Regierungen im Rat einnehmen.
Lobby von Großkonzernen verhindert Steuertransparenz
In der Studie „Die deutsche Ratspräsidentschaft: Industrie in der Hauptrolle“ zeigen Organisationen anhand konkreter Beispiele, wie die Bundesregierung in den vergangenen Jahren im Interesse deutscher Konzerne Gesetze im Sinne des Gemeinwohls verzögert oder verwässert hat. So zeigt das Netzwerk Steuergerechtigkeit, wie es Unternehmen und ihren Verbänden – allen voran der Stiftung Familienunternehmen – gelungen ist, dass die Bundesregierung eine Mehrheit für die Steuertransparenz im Rat verhindert hat. Denn auch globale Unternehmen aus Deutschland nutzen die Tricks zur aggressiven Steuervermeidung und haben wenig Interesse daran, dass diese künftig transparent werden könnten. Und obwohl die SPD im Lauf der Debatten umgeschwenkt ist, ist es den LobbyistInnen gelungen, die CDU, allen voran das Bundeswirtschaftsministerium, auf eine Ablehnung festzulegen. Insgesamt musste sich die Bundesregierung damit enthalten.
Nun sieht es dank einer neuen Regierung in Österreich nach anderen Mehrheitsverhältnissen aus, käme es im Rat für Wettbewerbsfähigkeit Ende September zu einer erneuten Abstimmung. Doch Deutschland hat jetzt die Macht über die Tagesordnung inne und setzt das Thema schlicht nicht auf. Das ist ein echter Missbrauch der Rolle der Ratspräsidentschaft, die eigentlich eher moderierend und problemlösungsorientiert sein sollte. Damit darf die Bundesregierung nicht davonkommen.
Deutschland: Kein Motor für den Klimaschutz
Deutschland hat die Ratspräsidentschaft zu einem heiklen Zeitpunkt übernommen: Viele Lobby-Akteure nutzen die Coronakrise als Vorwand, um gegen ungeliebte Maßnahmen Sturm zu laufen – vor allem gegen den Green Deal, das Maßnahmenpaket zum Klimaschutz. Wegen Corona sei Konzernen kein Klimaschutz zumutbar, lautet das gängige Argument. Wird die Bundesregierung sich dem Druck der Wirtschaftsakteure beugen? Das wäre hochgefährlich, denn der Klimaschutz geht jetzt auf EU-Ebene in eine entscheidende Phase: Wie viel jeder Staat beitragen muss, damit die EU wie geplant 2050 klimaneutral sein kann, wird in den kommenden Monaten zwischen den Staaten ausgehandelt. Deutschland müsste dies moderieren und voranbringen. Allerdings hinkt es den neuesten Plänen der EU-Kommission selbst hinterher, vor allem im Verkehrssektor. Wen wundert das, hat doch die Bundesregierung jahrelang die Autoindustrie darin unterstützt, trotz Klimawandel und Abgasskandal immer mehr und schwerere SUVs mit Verbrennungsmotor zu bauen. Die Ziele zur Reduktion von CO2 hat Deutschland im Rat nach allen Regeln der Kunst verzögert und verwässert, wie der BUND in seinem Beitrag zu unserer Studie darstellt. Und auch jetzt, wo die Kommission ein ehrgeiziges Tempo anschlägt, nimmt die Bundesregierung die Autoindustrie in Schutz. Eine erneute Anhebung der CO2-Ziele bis 2030 sei den Konzernen aus Gründen der „Planungssicherheit“ nicht zuzumuten, ließ Peter Altmaier, Minister für Wirtschaft und Energie, Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin, Anfang des Jahres per Brief wissen. Es ist mehr als fraglich, ob Deutschland mit solchen Spielchen die anderen Mitgliedstaaten dazu motivieren wird, sich ehrgeizige Ziele in Sachen Klimaschutz zu setzen.
Deutschland muss Verantwortung tragen
Viele Staaten versuchen, die Interessen ihrer Unternehmen im Rat durchzusetzen. Wir haben uns Deutschland als Beispiel genommen, weil es nun einmal gerade jetzt die Ratspräsidentschaft übernimmt und als wirtschaftlich stärkstes Land und größter CO2-Emittent eine besondere Verantwortung innerhalb der EU hat. Ob Steuern oder Autos, Gasindustrie oder Fisch, digitale Unternehmen oder Chemiekonzerne: Immer wieder gereichen großen Konzernen die Intransparenz des Rates sowie ihre privilegierten Zugänge zur Politik zum Vorrang ihrer Interessen vor denen der Allgemeinheit. Die Intransparenz des Rats hilft vor allem denjenigen, die ausreichend Ressourcen haben, um trotzdem Bescheid zu wissen: Zum Beispiel, wann sich ein Gesetz in welcher Abstimmung befindet und mit wem man darüber reden sollte, wenn man es ändern möchte. Das sind in erster Linie große Unternehmen, die sich ausreichend Lobbyisten mit dem nötigen Fachwissen leisten können. Andere haben das Nachsehen.
Mehr Transparenz, mehr Demokratie
Das muss aufhören! Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft darf das Interesse der Konzerne nicht über das der breiten Öffentlichkeit stellen. Es muss Schluss sein mit privilegierten Zugängen großer Konzerne und einseitigen Klüngelrunden mächtiger Lobbygruppen. Wir brauchen offene, transparente und ausgewogene Debatten. Dabei gilt es viele Stimmen anzuhören, gesellschaftliche Anliegen gegeneinander abzuwägen und auch besonders auf diejenigen zuzugehen, die keine mächtigen Lobbyapparate haben – und zwar auch über die Zeit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hinaus.
Im Rahmen seiner Ratspräsidentschaft muss Deutschland sich außerdem für eine Reform der EU-Gesetzgebungsverfahren einsetzen, insbesondere mit Blick auf mehr Transparenz in der Ratsarbeit. Ebenso braucht es aber mehr Klarheit in Deutschland: Ein verpflichtendes Lobbyregister für Bundestag und Bundesregierung, eine legislative Fußspur sowie die Veröffentlichung von Lobbytreffen der MinisterInnen und hohen BeamtInnen.
Die Gesetze, die auf EU-Ebene beschlossen werden, sind von großer Bedeutung für den Alltag der Bürgerinnen und Bürger. Die Bundesregierung sollte nicht länger ein Geheimnis darum machen, mit welchen Positionen sie in Ratsverhandlungen hineingeht. Erst dann könnten sie auch hier öffentlich diskutiert werden. Für das Interesse an und die Zustimmung zur EU wäre das ein Riesenbeitrag.
Nina Katzemich – Die Autorin arbeitet für LobbyControl im Bereich „Lobbyismus in der EU“. LobbyControl setzt sich für mehr Regeln und Transparenz beim Lobbyismus ein sowie gegen den übermäßigen Einfluss großer Konzerne auf die Politik.
Der Beitrag wurde ursprünglich für den aktuellen Rundbrief des Forums Umwelt und Entwicklung geschrieben.
Autor*in:
Nina Katzemich