1. »
  2. Blog
  3. »
  4. Blog
  5. »
  6. Forderungen zur Wissenschaftspolitik für Nachhaltige Entwicklung
10. Dezember 2020

Forderungen zur Wissenschaftspolitik für Nachhaltige Entwicklung

Nachhaltige Entwicklung verlangt eine „Große Transformation“ von Wirtschaft und Gesellschaft innerhalb von zwei Jahrzehnten. Spätestens 2040 muss Deutschland klima-neutral sein, die Flächenversiegelung beendet und die Stoffströme zumindest halbiert haben. Die ökologischen Nachhaltigkeitsziele müssen erreicht werden, ohne Verteilungsgerechtigkeit, soziale Sicherheit und Demokratie zu gefährden. Das kann nur gelingen, wenn das Wissenschaftssystem die sozial-ökologische Transformation maßgeblich unterstützt und Nachhaltigkeitsziele einen zentralen Orientierungspunkt im wissenschaftlichen Mainstream darstellen. Damit das Wissenschaftssystem sich intensiv und produktiv mit dieser großen gesellschaftlichen Herausforderung befassen kann, müssen in der nächsten Legislaturperiode 2021-2025 gravierende Veränderung der (finanziellen) Anreize, der Strukturen, der Governance und der Institutionen vorgenommen werden. Es geht um mehr, um anders und um gezielter – mehr Haushaltsmittel, andere Schwerpunkte und verbesserte Wirksamkeit.

(1) Neue Schwerpunkte in der inhaltlichen und disziplinären Ausrichtung der Forschungsförderung setzen.

a) Mehr ganzheitliche Systemanalysen (von Mobilitätssystem über das Ernährungssystem bis zum wachstumsunabhängigen Wirtschaftssystem) anstelle der Förderung von fachspezifischen Einzelprojekten. Erarbeitung von Systemwissen verlangt mehr inter- und transdisziplinäre Forschung.

b) Mehr geistes-, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschung mit Fokus auf Ziel- und Transformationswissen, weniger naturwissenschaftlich-technische Ausrichtung. Konkret: FONA und SÖF stärken und etablierte Programme wie die Hightech-Strategie auf praktische Transformationsprobleme ausrichten (sektoralen und regionalen Strukturwandel, Weiterbildungsbedarfe, Konfliktmanagement).

c) Mehr Forschung zu Suffizienz und Suffizienzpolitik, d.h. der Ermöglichung von nachhaltigen Lebensweisen, Konsummustern, Arbeits(zeit)modellen und einer Post-Wachstumsgesellschaft anstelle der Fixierung auf Effizienzlösungen.

d) Institutionelle Förderung (Grundfinanzierung) von Großforschungsinstituten und Akademien an inhaltliche Schwerpunktsetzung im Bereich Nachhaltiger Entwicklung knüpfen.

e) Transformationsberichterstattung: Wie zur konjunkturellen Entwicklung braucht die Bundesregierung auch zum sozial-ökologischen Transformationsprozess einen regelmäßigen, umfassenden Fortschrittsbericht mit wissenschafts-basierten Hinweisen auf Handlungsbedarf.

(2) Transparenz und Wissenschaftskommunikation verbessern, um damit Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit des Wissenschaftssystems zu steigern.

a) Ausschreibungsverfahren und Begutachtungsprozess transparent gestalten (nachvollziehbare Begründungen, Beteiligte, Interessenkonflikte).

b) Projekt-Ergebnisse allgemein und frei zugänglich machen (freier Zugang zu Daten und Publikationen, open access).

c) Wissenschaftskommunikation verbessern und als integralen Bestandteil transdisziplinärer Forschung fördern.

(3) Governance: Entscheidungsstrukturen verändern und Partizipation stärken.

a) Durch stärkere Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Organisationen können die Nachhaltigkeitsforschung zielgenauer ausgerichtet, die Akzeptanz von Nachhaltigkeitslösungen und die Geschwindigkeit ihrer Umsetzung gesteigert werden. Mehr Partizipation darf sich nicht auf Beteiligung an Projekten beschränken, sondern muss beim Agenda-Setting für Schwerpunkt-Programmen beginnen (z.B. im Hightech-Forum).

b) In allen Gremien von öffentlich finanzierten Wissenschaftseinrichtungen, an denen Vertreterinnen aus Wirtschaft und Industrie beteiligt sind, sollen immer auch Vertreterinnen zivilgesellschaftlicher Organisationen Sitz und Stimme haben (z.B. in Hochschulräten). Bloße Beteiligung an Anhörungen und Dialogprozesse sind nicht ausreichend. Damit zivilgesellschaftliche Vertreterinnen flächendeckend mitwirken können, muss Kompetenz aufgebaut werden (capacity building) und müssen finanzielle Voraussetzungen geschaffen werden (Aufwandsentschädigung).

(4) Institutionelle Innovation. Neben der Neu-Ausrichtung bestehender Institutionen sind neue Impulse durch eine neue Institution erforderlich, die sich auf die Nachhaltigkeitsziele und den Transformationsprozess konzentriert und von NGO-Vertreter*innen mitgesteuert wird. Ein Zivilgesellschaftlichen Forschungsfonds (ZFF) hätte folgende Aufgaben:

a) Forschung: Definition von Schwerpunkten, Ausschreibung und Vergabe von Projekten und Gutachten zum Transformationsprozess.

b) Bürgerwissenschaften unterstützen (empowerment).

c) Weiterbildung und Qualifizierung für Partizipationsprozesse im Wissenschaftssystem (capacity building). Mit dem Aufbau des ZFF muss sofort begonnen werden. Im Haushalt 2021/22 sind 100 Mio. € einzustellen, die bis 2025 schrittweise auf 1 Mrd. € p.a. erhöht werden.

(5) Hochschulen zu Orten sozial-ökologischer Transformation auf wissenschaftlicher Basis ausbauen.

a) Die Hochschulen etablieren regionale Transformationszentren, die Transformationsprozesse anstoßen und begleiten (z.B. Reallabore), dabei das Innovationspotential von KMU und NGOs unterstützen und durch Mitarbeit von Studierenden die Qualität der Lehre verbessern.

b) Durch einen nachhaltigen Betrieb (z.B. klimaneutral) übernehmen sie eine Vorbildfunktion, die auf Lehre, Forschung und Transfer ausstrahlt.

c) Ausbau der berufsbegleitenden wissenschaftlichen Weiterbildung, um Millionen Berufstätige im Sinne lebenslangen Lernens als Gestalterinnen nachhaltiger Entwicklung und als Change Agents für die neuen Herausforderungen zu qualifizieren. Dazu sollen Bund und Länder ein Hochschul-Zukunftspaket finanzieren, das auch Stellen für wissenschaftliches Personal umfasst (Nachwuchswissenschaftlerinnen, Transformations-Professuren). Finanzierungsbedarf: 500 Mio. € p.a. (mindestens 1 Mio. € pro Transformationszentrum).

(6) Stärkung des wissenschaftlichen Nachwuchses als Treiber einer sozial-ökologischen Transformation

a) Studierende werden als Change Agents befähigt. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) wird in allen Studiengängen verankert, um problembewusste und kompetente Persönlichkeiten zu bilden, die Verantwortung für nachhaltige Entwicklung übernehmen können. Durch Nachhaltigkeitstransfer und Praxis-Hochschul-Kooperationen werden Lernprozesse in reale Kontexte eingebettet. Dadurch erproben Studierende ihr Wissen in der Praxis und erwerben Schlüsselkompetenzen für nachhaltige Entwicklung.

b) Perspektiven für Nachwuchswissenschaftlerinnen: Um das Forschungsinteresse der nächsten Wissenschaftlerinnen-Generation für die Große Transformation zu verstärken sind (mehr) Förder- und Stipendien-Programme zu Nachhaltigkeitsthemen erforderlich, die transdisziplinäre Karriere-Pfade und neue Perspektiven öffnen.

(7) Finanzierung: Haushaltsmittel für die geforderte Neu-Ausrichtung des Wissenschaftssystems (Wissenschaftswende) umschichten.

a) Deutschland: Die Beschlüsse des Koalitionsausschusses vom 03.06.2020 mit einem Volumen von insgesamt 130 Mrd. € enthalten ein „Zukunftspaket“ von 50 Mrd. €, das im Wesentlichen die Aufstockung der Förderung des Mobilitätssektors und von „Schlüsseltechnologien“ vorsieht. Eine neue Bundesregierung muss das Zukunftspaket aufschnüren und es systematisch auf nachhaltige Entwicklung und sozial-ökologische Transformation ausrichten.

b) EU: Mit dem EU-Haushalt 2021-2027 (1.074 Mrd. €) und dem Wiederaufbau-Programm „Next Generation EU“ (750 Mrd. €) werden große Summen festgelegt, die wenig für Zukunftsfähigkeit leisten. Deutlich erhöht werden müssen z.B. das Wissenschaftsprogramm „Horizon Europe“ und der Just Transition Fund.

(8) Politische Verantwortung für die Wissenschaftswende in Richtung Nachhaltigkeit übernehmen.

a) Wesentliche Teile des Wissenschaftssystems werden in akademischer Selbstverwaltung gesteuert, d.h. über die Verwendung von Steuergeldern entscheiden die Wissenschaftlerinnen selbst (Autonomie). Aber Akteure des politischen Systems (zumeist Exekutive, Ministerialbeamtinnen) sind an den grundlegenden Entscheidungen beteiligt und können daher auf ein größeres Gewicht der Nachhaltigkeitsforschung hinwirken.

b) Parlamente, Abgeordnete und Parteien haben die politische Verantwortung für die Durchsetzung und Finanzierung der skizzierten Wissenschaftswende. Zukunftsfähigkeit geht alle an, nicht nur die Mitglieder des Forschungsausschusses. Forschungsetats und Programme sind entscheidende Weichenstellungen – da die Krisen von morgen nicht abwendbar sind ohne eine Transformation und Stärkung des Wissenschaftssystems heute.

c) Koalitionsvertrag: Auf der Agenda der nächsten Bundesregierung ab 2021 muss die Umgestaltung des Wissenschaftssystems entsprechend der Erfordernisse einer Nachhaltigkeitstransformation eine viel höhere Priorität und mehr finanzielle Mittel bekommen.


Diskussionspapier der Kommission Wissenschaftspolitik des BUND

Autor*in:
Kommission Wissenschaftspolitik des BUND

Schreibe einen Kommentar