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10. Mai 2021

EU-Politik jenseits von Wirtschaftswachstum

Die letzten 70 Jahre haben wir Wohlstand in Form von Wirtschaftswachstum abgebildet. Nach einer schweren Wirtschaftskrise, gefolgt vom zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit war die zentrale ökonomische Herausforderung Europas der Wiederaufbau und die Anhebung der materiellen Lebensstandards vieler Menschen. Rasantes Wirtschaftswachstum in einer damals “leeren Welt” (Daly 2015) mit etwa 2,5 Milliarden Menschen und scheinbar unerschöpflichen Ressourcenbeständen war ein effektiver Ansatz für diese Zielerreichung.

Heute, rund 70 Jahre später, haben sich Kontexte, Herausforderungen und Ziele stark verändert. Jetzt leben wir in einer “vollen Welt” mit knapp acht Mrd. Menschen und haben bereits im August die gesamten nachhaltig nutzbaren Ressourcen der Erde für das ganze Jahr verbraucht (Germanwatch 2020). Unsere auf Wachstum ausgerichteten Ökonomien sind ein Grund für die starke Übernutzung natürlicher Ressourcen. Eine absolute Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum ist nicht absehbar (Parrique et al. 2019). Dass es trotz starker Ressourcenübernutzung immer noch vielen Menschen an Lebensnotwendigem fehlt (Raworth 2017), verdeutlicht die Ungleichverteilung von Ressourcen. Eine globale Pandemie zeigt schmerzlich die Prioritäten und Fragilität unserer kurzfristorientierten, wachstumsbasierten Ökonomien. Jetzt erst recht brauchen wir resiliente und langfristig stabile Wirtschaftssysteme.
Trotzdem ist Wirtschaftswachstum weiter zentrales politisches Mittel europäischer und nationaler Politik. Wirtschaftswachstum stellt im Status quo eine wesentliche Bedingung für die Aufrechterhaltung wirtschaftlicher und politischer Stabilität dar (Jackson 2017; Richters und Siemoneit 2019). Staatshaushalte, Vollbeschäftigung, soziale Sicherungssysteme und die Umgehung von Zielkonflikten fordern Wirtschaftswachstum by design, um weiterhin zu funktionieren.

Für ein Europa der Zukunft, in dem das Wohlergehen aller Menschen gesichert und Ressourcen geschützt werden können, ist die Entkopplung wirtschaftlicher und politischer Stabilität von der Notwendigkeit kontinuierlichen Wirtschaftswachstums zentrale politische Herausforderung.

Lösungsansatz: Das Projekt ‚Politik jenseits von Wachstum‘

Das bei ZOE. Institut für zukunftsfähige Ökonomien durchgeführte Projekt setzt an dieser Herausforderung an. Es wurden Gründe und Strategien für die EU-Politik eruiert und entwickelt, um die Abhängigkeit von Wirtschaftswachstum zu reduzieren und politischen Handlungsspielraum auszudehnen. Letzterer unterstützt die Möglichkeit einer Re-Orientierung politischen Handelns an vielfältigen sozialen und ökologischen Zielen. Die Projektergebnisse bieten einen wissenschaftlich basierten, neuen politischen Kompass für den Aufbruch in ein stabiles, nachhaltiges und soziales Europa der Zukunft.

Konkret wurden im Projekt

1) ein Framework für Postwachstumspolitik und eine Politikideendatenbank entwickelt,

2) ko-kreative Policy-Labs und Workshops mit Mitgliedern der EU-Politik organisiert, um ressortübergreifende Prozesse und integrierte Politikstrategien jenseits von Wirtschaftswachstum anzustoßen,

3) eine Website erstellt, auf der im Projekt entwickelte Argumente, Tools und Strategien für politische Entscheider*innen und die Zivilgesellschaft frei verfügbar sind,

4) ein europäisches Netzwerk wichtiger Akteure und politischer Entscheider*innen aufgebaut, um einen produktiven Austausch zu schaffen und die Potenziale und Möglichkeiten einer sozial-ökologischen Transformation zu bündeln.

Ein Framework und eine Datenbank für Postwachstumspolitik

Die Realisierung sozial gerechten Wohlstands unter Wahrung ökologischer Grenzen fordert Politikansätze, die soziale, ökologische und ökonomische Ziele gleichermaßen adressieren (können). Sie müssen helfen, Wirtschaftswachstum als zentrales Politikziel abzulösen, indem sie strukturelle Wachstumsabhängigkeiten reduzieren. Dies steigert politischen Handlungsspielraum und es können alternative Mittel für die Erreichung politischer Ziele eingesetzt werden. Bisher fehlte eine konsistente Synthese potentieller Politiken.

Das im Projekt entwickelte kohärente Framework bietet eine Strukturierung bestehender Politikvorschläge aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Der Ansatz berücksichtigt Vernetzung, Kohärenz und Konkretisierung der Politikvorschläge. Politische Entscheider*innen und Berater*innen können mit dem Tool geeignete Politikinstrumente für transformative Strategien finden, die zu der Erfüllung ihrer gesellschaftspolitischen Ziele beitragen. Die Vorschläge sind nach sieben Politikbereichen strukturiert.

Aktuell umfasst sie 17 Ziele, 86 transformative Strategien und über 230 Politikinstrumente.

Eine Illustration: Zwei Ziele sind beispielsweise der Übergang zu nachhaltigen Produktions- sowie Konsummustern. Diesen zwei Zielen sind aktuell 22 und 16 transformative Strategien zugeordnet. Wobei 11 Strategien auf beide Ziele einzahlen. Die Vernetzung der verschiedenen Elemente im Framework ermöglicht die Berücksichtigung von Interdependenzen und Synergien. Jene Strategien bringen zum Ausdruck was sich für die Zielerreichung ändern muss. Beispielhafte Strategien sind die Reduktion von Rebound-Effekten oder die Reduktion ressourcenintensiver, nicht-nachhaltiger Produktion.

Letzterer Strategie können beispielsweise wiederum 38 Politikinstrumente zugeordnet werden. Sie zeigen wie die Veränderungen erzielt werden können. Beispiele für konkrete Politikinstrumente sind Ressourcensteuern oder Ressourcenbudgets.

Die Politikideendatenbank soll laufend weiterentwickelt werden.

Die Website Sustainable Prosperity

Auf der Website www.sustainable-prosperity.eu sind die Politikideendatenbank und weitere Projektergebnisse frei zugänglich gemacht. Aktuell bietet die Seite wissenschaftlich gesicherte Analysen der Herausforderungen sowie Argumentations- und Politikstrategien für Politik jenseits von Wirtschaftswachstum.

Zum einen beleuchtet die Plattform die Geschichte des Wirtschaftswachstums, wirft einen Blick auf die Wachstumsabhängigkeit von Staatshaushalten und Sicherungssystemen, Beschäftigung und Einkommen, Konsum und Renten- und Machtbestrebungen und stellt bereits bestehende Ansätze für alternative und umfassendere Wohlstandsmessungen vor.

In einer Sammlung von fundierten Argumentationsstrategien werden typische Argumente für die Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum für ökologische, politische und wirtschaftliche Stabilität herausgefordert und Gegenargumente angeboten. Die Sammlung soll zur Information politischer Diskussionen dienen und fordert die Prüfung der Basis eigener Überzeugungen heraus.

Außerdem sind Policy Briefs zum Neudenken von Bodensteuern, Arbeit(szeit) und Sozial- und Gesundheitspolitik nach der Pandemie veröffentlicht worden, entwickelt von internationalen Expert*innen aus dem Netzwerk des ZOE- Instituts.

Einblicke gibt es ebenfalls in die im Projekt durchgeführten ko-kreativen Policy Labs, Workshops und Panel-Diskussionen mit Mitgliedern verschiedener Generaldirektionen der EU-Kommission sowie wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Expert*innen. Ziele dieser Veranstaltungen waren die Sensibilisierung für Wachstumsabhängigkeiten und eine Weichenstellung für Politik jenseits von Wachstum, die Förderung bereichsübergreifender Zusammenarbeit und die Initiierung konkreter Prozess- und Politikvorschläge sowie die Erweiterung und Stärkung einer Multi-Akteurs-Allianz.

Die Website ist kein Endprodukt, sondern soll Prozesse anregen und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Treten Sie direkt mit ZOE in Kontakt, wenn Sie Teil der Allianz für Politik jenseits von Wachstum werden möchten.

’Politik jenseits von Wirtschaftswachstum’ ist ein Projekt vom ZOE. Institut für zukunftsfähige Ökonomien. ZOE versteht sich als Inkubator für neues ökonomisches Denken, erforscht Wege zu nachhaltigen Ökonomien und bringt die gewonnenen Erkenntnisse durch wissenschaftliche Politikberatung in die Praxis ein.


[1] Daly, H. (2015): Economics for a full world. Great Transition Initiative (Juni 2015). https://greattransition.org/publication/economics-for-a-full-world

[2] Germanwatch, BUNDjugend, FairBindung, NAJU (2020): Klima- und Ressourcenüberlastungstag rückt drei Wochen nach hinten. Pressemitteilung vom 19.08.2020.

[3] Jackson, T. (2017): Wohlstand ohne Wachstum – das Update. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft. Oekom, München.

[4] Parrique, T., Barth, J., Briens F., C. Kerschner, Kraus-Polk A., Kuokkanen A., Spangenberg J.H. (2019): Decoupling Debunked – Evidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability. European Environmental Bureau.

[5] Raworth, K. (2018): Die Donut-Ökonomie – Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört. Hanser Verlag, München.

[6] Richters, O., Siemoneit, A. (2019): Wachstumszwang – eine Übersicht. ZOE Discussion Papers, No. 3, Februar 2019.


Tabea Waltenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Wissenschaftsladen Bonn. Als Ökonomin und Wirtschaftspsychologin arbeitet sie dort in internationalen Beteiligungsprojekten für eine sozial-ökologische Wirtschaftstransformation. Bis 2019 hat sie bei ZOE im Projekt ‚Politik jenseits von Wirtschaftswachstum’ gearbeitet und war für die Entwicklung der Projektwebsite Sustainable Prosperity verantwortlich.
https://zoe-institut.de/person/tabea-waltenberg/

Jakob Hafele ist Mitgründer und Geschäftsführer von ZOE. Er nutzt seine ökonomische Expertise, um die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, nationale und lokale Regierungen beim Aufbau gerechter und nachhaltiger Ökonomien zu unterstützen.
https://zoe-institut.de/person/jakob-hafele/

Autor*innen:

Tabea Waltenberg, Jakob Hafele