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18. August 2020

Wirtschaft neu denken!

Einleitung

Alles Wirtschaften generiert aus natürlichen Ressourcen die Güter und Dienstleistungen, Infrastrukturen und Kommunikationsmittel unseres täglichen Gebrauchs. Das war schon immer so – Sammler und Jäger nutzten vor 2,5 Millionen Jahren die natürlich vorkommende Biomasse und rotteten in der Levante die ersten Arten aus. Biomasse diente bis zur industriellen Revolution als nahezu ausschließliche Quelle für Nahrung, Konstruktionsmaterial und Energieträger; Holzknappheit im sächsischen Silberbergbau und Verhüttungswesen führte zur Entwicklung des Konzepts der Nachhaltigkeit durch Carl von Carlowitz 1713 [1]. Die Umweltfolgen wurden seit der industriellen Revolution vor ca. 260 Jahren wesentlich stärker, weil das Wirtschaften nicht mehr den Restriktionen unterlag, die die Gewinnung nutzbarer Energie aus Sonneneinstrahlung via Biomasse, Wind und Wasserkraft den Menschen zuvor auferlegt hatte. Heute sind ca. 80 Prozent der Verluste an biologischer Vielfalt mit der Bereitstellung und Umwandlung von Ressourcen verbunden.

Leben ist immer materiell und fern vom Gleichgewicht

Die Hauptsätze der Thermodynamik, bekannt seit 170 Jahren, zeigen, dass Energie weder geschaffen noch vernichtet werden kann – sie wird lediglich in andere Energieformen umgewandelt, wobei immer ein Teil als Entropie irreversibel verloren geht. Sie ist der gemeinsame Nenner vieler Umweltbelastungen und sorgt dafür, dass wirtschaftliche Prozesse nicht reversibel sind, d.h. dass die Effizienz nie 100% beträgt und Recycling nie vollständig, dafür aber meist mit Energieeinsatz verbunden ist [2]. Bioökonomie und Kreislaufwirtschaft sind insofern schöne Metaphern ohne physikalische Realisierbarkeit., Chiffren für einen Wandel die die Reichweite der anstehenden Transformation verschleiern. Ebenfalls die Physik ist es, die auch die Endlichkeit der Ressourcen in geschlossenen Systemen und damit die Unmöglichkeit des unbegrenzten Wachstums eines auf dem Durchsatz von Materie und Energie basierenden Subsystems wie der Wirtschaft impliziert. Moderne Wirtschaften sind demnach nicht im (physikalischen) Gleichgewicht, sondern selbstorganisierende dissipative Strukturen fern des Gleichgewichts, deren Formstabilität durch den stetigen Durchsatz von Materie und Energie aufrechterhalten wird – Konzepte die Ilija Prigogine und Isabelle Strengers vor 35 Jahren entwickelten [3].

Das sind Einsichten, die weiten Teilen der Wirtschaftswissenschaften bis heute verschlossen bleiben. Stattdessen folgen Entscheidungsträger*innen den kontrafaktischen Annahmen der neoklassischen Wirtschaftheorie, nach der Prozesse und Entwicklungen reversibel und nicht pfadabhängig sind, Systeme sich im Gleichgewicht befinden oder unvermeidlich auf ein solches zustreben, der Markt Mangel nicht dauerhaft zulässt, und dass es durch eine Steigerung der Effizienz möglich sein werde, die notwendigen Reduzierungen von Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung bei ständigem Wirtschaftswachstum umfassend, dauerhaft und nicht nur regional zu erzielen. Die Hoffnung auf ein „grünes Wachstum“ steht und fällt aber mit dieser Annahme – nur spricht nichts dafür, dass eine solche, nie dagewesene Entwicklung möglich werden könnte, wohl aber vieles dagegen, u.a. die Reboundeffekte (durch Effizienz eingespartes Geld wird für zusätzliche Güter ausgegeben) und der steigende Ressourcenaufwand zur Ressourcengewinnung [4]. Solche Annahmen, die im eklatanten Widerspruch zu den Naturgesetzen stehen, sind die Grundlage unserer Wirtschafts- und damit auch der Gesellschaftspolitik – eine Wissenschaftsleugnung, die es in Ausmaß, Dauer und Gefährlichkeit mit der Klimakrisenleugnung aufnehmen kann, aber ohne als solche thematisiert und kritisiert zu werden.

Nachhaltig wirtschaften

Die moderne Konzeption von Nachhaltigkeit, popularisiert durch die Brundtland-Kommission, verbindet naturwissenschaftliche Einsichten über die Grenzen der Naturnutzung (heute als „planetare Grenzen“ bekannt) mit nationaler und globaler Verteilungsgerechtigkeit [5]. Die Brundtland-Kommission hat Nachhaltigkeit als auf zwei Säulen beruhend definiert; eine eigenständige wirtschaftliche Säule gibt es nicht – wirtschaften ist Mittel, nicht Zweck. Die zwei Basisziele sind (im aktuellen Jargon formuliert)

  1. die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, insbesondere die Überwindung der Armut, und
  2. die Respektierung der planetaren Grenzen, deren Einhaltung notwendig ist, wenn die Verfügbarkeit der Ökosystemleistungen dauerhaft gesichert werden soll.

Eine Wende zu einer zukunftsfähigen Politik erfordert als erstes, die physische wie die soziale Realität als Ausgangspunkt politischen Handelns zu nehmen. Nachhaltigkeit kann dann auf drei verschiedenen Ebenen des Wirtschaftens diskutiert werden:

  1. In der physischen Ökonomie geht es um die Verfügbarkeit der Naturressourcen, die die Grundlage des Wirtschaftens sind: Material, Energie, Land, Biodiversität und Information. Von diesen nimmt nur die Information dauerhaft zu, während die übrigen Faktoren bereits übernutzt sind. Eine Reduzierung ihrer Inanspruchnahme, also die physische Verschlankung der Wirtschaft, ist überfällig. Auf der Outputseite geht es um die Bereitstellung von Sekundärrohstoffen aus Abfällen, innerhalb der entropiebedingten Begrenzungen. Die Schlüsselfragen sind: Wieviel? und Womit?
  2. In der transformierenden Ökonomie werden die aus der physischen Ökonomie stammenden Ressourcen physikalisch oder chemisch umgewandelt und zu Produkten für den menschlichen Gebrauch transformiert, meist in endothermen Prozessen, d.h. unter Verbrauch von nutzbarer Energie, die ebenfalls aus der physischen Ökonomie stammt. Die Umwandlungsprozesse entwerten die Energie (nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik) und nach Georgescu-Roegen (1971) auch die Materialien, und erhöhen die Entropie [6]. Auf der Outputseite werden gebrauchte Güter für eine erneute Nutzung ertüchtigt (Reparatur, Modernisierung, Upgrades). Die Schlüsselfragen sind das Was? und Wie? der Produktion.
  3. In der sozialen Ökonomie geht es nicht um die Herstellung von Gütern, sondern um deren Verteilung und Konsum, um die Mechanismen und Kriterien der Allokation von Gütern (einschließlich Dienstleistungen). Die Outputseite der sozialen Ökonomie bildet die Redistribution, mit neuen Fragen zur Rolle der Produzenten (u.a. Produkthaftung) und den Pflichten der Produkteigentümer*innen. Hier stellen sich auch viele traditionelle soziale Fragen, die jedoch durch die neue Rahmung neue Antworten erfordern. Die Schlüsselfragen sind demgemäß Wofür? und Für wen?
Dreieck, dass die Hierarchie der Ebenen des Wirtschaftens. Unten "physische Ökonomie, stofflich/ökologisch", darüber "Transformierende Ökonomie" und an der Spitze die "Soziale Ökonomie".
Abbildung von J. Spangenberg

Alle Ebenen werden durch interagierende formale und informelle Institutionen strukturiert, die auch für die Koordination zwischen den Ebenen zuständig sind. ­

Physische Strukturierung

Diese Form die Wirtschaft zu betrachten hat direkte Implikationen für das Verständnis nachhaltiger Entwicklung:

  1. Die Grenzen der physischen Ökonomie implizieren Grenzen nicht nur für den Ressourcenkonsum und seine ökologischen Folgen pro Kopf der Bevölkerung, sondern auch pro durchschnittlicher Arbeitsstunde. Die Grenzen der Ressourcenverfügbarkeit definieren die zu gestaltenden Möglichkeitsräume zukünftigen Wirtschaftens, Arbeitens und Konsumierens: die Entwicklung der Industriegesellschaft ist untrennbar mit der fossilen Moderne und dem fossilen Kapitalismus verbunden, denen mit dem aus Klimaschutzgründen notwendigen Ende der fossilen Energieträger buchstäblich die Energie ausgeht (jede Hoffnung, diese 1:1 durch Erneuerbare zu ersetzen ist quantitativ aus biophysikalischen Gründen illusorisch).
  2. Für die transformierende Ökonomie sind die Grenzen der physischen Verfügbarkeit unüberwindbare Rahmenbedingungen des Wirtschaftens. Hier findet die Entscheidung über Verwendungszweck statt, teils von Konsument*innen durch ihre Nachfrage initiiert, häufig von der Wirtschaft über Werbekampagnen beeinflusst. Ein vergleichsweise kleiner Teil der Güter kann nach Retransformation (Reparaturen, Upgrades etc.) der erneuten Nutzung zugeführt werden, aber für Dienstleistungen und Konsumgüter wie Energieträger, Nahrungs- und Futtermittel, die weit über die Hälfte aller Stoffströme ausmachen, ist das unmöglich.
    Eine Möglichkeit, den Ressourcendurchsatz der Volkswirtschaft zu senken, sind politisch gesetzte Grenzen, die am Input ansetzen, weil hier Monitoring und Kontrolle wesentlich einfacher sind: während nicht mehr als 50-100 unterschiedliche abiotische Materialien einschließlich der Energieträger in nennenswerten Mengen in das ökonomische System eingebracht werden, verlassen es über 100.000 allein aus der chemischen Industrie. Zudem sind die meisten Stoffeinträge bereits erfasst, da hier regelmäßig Steuern oder Abgaben fällig werden [7].
    Die Zuteilung selbst könnte dann, analog zur Vergabe von Funkfrequenzen, in Ressourcenversteigerungen bestehen – individuelle Guthaben sind in diesem Kontext nicht notwendig, da die Preiseffekte auf die Produkte übergewälzt werden und sich bis zur Ladentheke auswirken. Dabei würden diejenigen Firmen und Branchen, die aus der jeweiligen Ressourcen die höchste Wertschöpfung generieren, den Bieterwettbewerb gewinnen. Sowohl die physischen Begrenzungen als auch die resultierenden Preiseffekte würden Anreize bieten, die Priorität bei Innovation von der Steigerung der Arbeits- auf die Ressourcenproduktivität zu verlagern. Das ist zunächst zu begrüßen, aber was wenn die Nutzungen, die zu kurz kommen, gesellschaftlich wichtig sind, und/oder wenn die potenziellen Nutzenden nicht gewinnträchtige Firmen, sondern gemeinnützige Institutionen sind, die das notwendige Kapital um mitzusteigern gar nicht erwirtschaften dürfen (und wollen)? Unter diesen Umständen sollte man nicht ausschließlich auf den Markt als Allokationsmechanismus setzen, sondern die Vergabe für unterschiedliche Nutzer*innengruppen spezifisch gestalten. Zudem wäre eine Einkommensuntergrenze notwendig, die sicherstellt, dass auch bei steigenden Preisen niemand von der aktiven Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen wird und das gegenwärtige Ausmaß an prekären Lebensverhältnissen deutlich reduziert wird.
    Die physische Verschlankung der Wirtschaft begrenzt auch das Wirtschaftswachstum in monetären Termini. In einer Wirtschaft, deren physischer Ressourcendurchsatz konstant ist, entspricht die maximale Rate des realen Wirtschaftswachstums dem Wachstum der Ressourcenproduktivität. Bei einer umfassenden Dematerialisierung impliziert dies ein sinkendes Bruttoinlandsprodukt. Das führt dann – da in jeder Periode nur verteilt werden kann was erwirtschaftet wurde – zu neuen Verteilungskonflikten zwischen Arbeit, Kapital und Staat. Um dennoch den Lebensstandard zu erhalten werden Formen der kollektiven Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen sowie eine Allokation nach Bedarf statt nach Kaufkraft eine größere Rolle spielen müssen. Ein solches Vorgehen stößt an die Grenzen des Marktes, weil es eine partielle Dekommodifizierung darstellt.
  3. In der sozialen Ökonomie wird einerseits über die Verteilung der Güter und Dienstleistungen entschieden, andererseits entscheidet die Verteilung darüber, welche Güter nachgefragt werden und wie diese (privilegierte) Position legitimiert wird. Der Markt ist im Idealzustand ein hocheffizienter Mechanismus zur Allokation von Gütern nach Kaufkraft. Welche Güter aber nach Kaufkraft über den Markt, welche nach Verdiensten (meritorische Güter: z.B. Renten und Orden), welche nach Staatsangehörigkeit (z.B. Pässe, Wahlrecht) und welche an jeden Einwohner (z.B. Steuerpflicht und Sozialleistungen) zugeteilt werden sollen ist keine ökonomische, sondern eine gesellschaftspolitische Frage. Dabei ist auch zu bedenken, dass der Umfang der verfügbaren nicht-kompetitiven Güter wächst (Güter, deren Nutzung nicht davon beeinträchtigt wird, dass andere sie ebenfalls nutzen, wie Sonnenschein oder open access Software) – solche Güter entziehen sich aufgrund ihrer Charakteristika einer Allokation durch den konkurrenzgetriebenen Markt.
Abbildung von J. Spangenberg

Gesellschaftliche Entscheidungen

Letztlich müssen Gesellschaften entscheiden, welche Prioritäten sie für die Nutzung begrenzter Ressourcen setzen wollen. Die Fragen nach dem „Wofür?“ bzw. „Warum?“ und „Für wen?“ vieler Produkte werden dann gesellschaftspolitisch, wenn sie ein „Darum nicht!“ für andere Güter bedeuten, wenn aufgrund begrenzter Ressourcen entweder-oder Entscheidungen notwendig werden – darauf ist die Marktwirtschaft ebenso schlecht vorbereitet wie die Politik. Wenn z.B. Rüstungsausgaben unmittelbar die Streichung anderer Optionen erfordern, dann wird der Legitimitätsbedarf wenn nicht unendlich so doch immens. Soll der gesamte Fahrzeugbestand der Welt auf elektrischen Antrieb umgerüstet werden, so müsste die Produktion an seltenen Erden um das 6,5fache, von Kobalt um das 20fache und von Lithium um das 200fache steigen – und das ist unmöglich [8]. Wer also soll das Lithium bekommen? Die Handy-Hersteller, die Automobilbauer, oder wer sonst? Nur die Illusion der unbegrenzten Verfügbarkeit hat uns bisher vor der Notwendigkeit der Prioritätensetzung bewahrt.

Wohlgemerkt, es handelt sich bei diesen Szenarien nicht um soziale Dystopien, sondern um den Versuch, Schlussfolgerungen aus der Einsicht in die Notwendigkeit einer Wende, die vor 20 Jahren noch wesentlich einfacher gewesen wäre, mit einem Maximum an sozialer Gerechtigkeit zu verbinden („Just Transition“). Die Alternative ist nicht der status quo, sondern statt einer geplanten Transformation ein ungeplanter Kollaps, der die am wenigsten Privilegierten am härtesten trifft. COVID-19 hat uns da einen vergleichsweise milden Vorgeschmack geboten.


[1] von Carlowitz, H. C. 1713. Sylvicultura oeconomica oder Anweisung zu wilden Baum-Zucht. Leipzig, Johann Friedrich Braun.
[2] Rebane, K. K. 1995. Energy, entropy, environment: why is protecting of the environment objectively different? Ecological Economics 13(1): 89-92.
[3] Prigogine, I., Stengers, I. 1984. Order out of Chaos: Man’s New Dialogue with Nature. Toronto-New York-London-Sydney, Bantam Books.
[4] Parrique T., Barth J., Briens F., et al. 2019. Decoupling Debunked. Evidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability. European Environment Bureau EEB. Brussels, EEB: 78
[5] WCED World Commission on Environment and Development. 1987. Our Common Future (The Brundtland Report). Oxford, Oxford University Press. Rockström, J., Steffen, W., Noone, K., et al. 2009. Planetary boundaries: exploring the safe operating space for humanity. Ecology and Society 14(2): 1-32
[6] Georgescu-Roegen, N. 1971. The Entropy Law and the Economic Process. Cambridge, MA, Harvard University Press.
[7] Spangenberg, J. H., Femia, A., Hinterberger, F., et al. 1998. Material Flow-based Indicators in Environmental Reporting. Luxembourg, Office for Official Publications of the European Communities.
[8] Bortolini, C. 2020. Die Macht der seltenen Erden. Le Monde diplomatique 2020(7): 16; Belkaïd, A. 2020. Kobalt wird knapp. Le Monde diplomatique 2020(7): 17.


Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung. Den Beitrag können Sie in voller Länge auf Nachfrage bei Benedikt Jacobs erhalten.

Autor*in:
Dr. Joachim Spangenberg